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geplant für die Landesgartenschau in Villingen Schwenningen

Endliche Säule

Text: Prof. Nils Büttner

Schon von Weitem sichtbar erhebt sich am Rand eines Weges im Stadtpark von Villingen-Schwenningen eine fünfeinhalb Meter hohe Stele, die aus unterschiedlich gefärbten Natursteinen aufgeschichtet ist. Helle, fast weiße Steine, rötlich gefärbte, marmorierte und graue lösen einander im Wechsel ab. Die Struktur wirkt irritierend, das Material seltsam vertraut. Im Nähertreten enthüllt sich das Vertraute des Anblicks. Es sind 31 industriell gefertigte Grabplatten wie sie auf jedem deutschen Friedhof zuhauf stehen, die hier übereinandergestapelt sind. Die Standflächen der Steine sind zum Weg hin so übereinander gelegt, dass eine plane Fläche ohne Versprünge entsteht, wobei Arbeitsspuren und Dübellöcher sichtbar sind und den einstigen Verwendungszweck der Steine verraten. Die andere Seite der Stele erscheint weniger streng, weil die polierten Seitenflächen der unterschiedlich geformten Grabsteine für zahlreiche Vor- und Rücksprünge sorgen. Auf drei Seiten wird die Form der Stele von den individuellen Formen der quasi normierten Grabsteine bestimmt, die zugleich durch ihre Gravuren dem individuellen Gedenken gewidmet waren. Durch das Aufeinanderlegen sind die Inschriften und mit ihnen die Namen der Toten verdeckt. Die Erinnerung an sie wird damit gleichsam konserviert und unsichtbar gemacht.

Schon durch ihr Material wird Alf Setzers für die Landesgartenschau des Jahres 2010 in Villingen-Schwenningen entstandene Arbeit zum Memento mori. Jedes Denkmal ist zugleich ein Nachdenken über die Zeit. Doch die „Endliche Säule“, so der beziehungsreiche Titel der Arbeit, erschöpft sich nicht darin, dem Betrachter die eigene Endlichkeit vor Augen zu halten. Neben dem Vanitas-Gedanken und dem Spiel mit dem an der eigenen Endlichkeit ausgerichteten menschlichen Empfinden für Zeit wird die Säule auch auf vielfältige Weise zum anspielungsreichen Mahnmal moderner Memorialkultur. Die Stele wird zum Sinnbild der gegenwärtigen Praxen des Erinnerns und des gesellschaftlichen Umgehens mit Tod und Sterben. Das damit ein sensibles Feld berührt ist, wurde schon im Vorfeld der Errichtung der Stele sichtbar, als die von Alf Setzer hinter seinem Atelier auf dem Gelände der Stuttgarter Kunstakademie gesammelten Grabsteine für die Bewohner des gegenüberliegenden Altenheims zum Stein des Anstoßes wurden. Die Lagerung der Grabsteine wurde als pietätlos, blasphemisch und einer Kunstakademie unangemessen betrachtet. Der Hinweis auf die im Friedhofsalltag übliche Entsorgung der Grabsteine konnte die erhitzten Gemüter der ihrer eigenen Endlichkeit erinnerten Bewohner des Wohnstiftes kaum beruhigen. Doch sind Grabsteine und die Erinnerung an Verstorbene wirklich heilig? Und wenn ja, wie lange?
Zu den ältesten Überlegungen aus dem Kontext der abendländischen Kultur, die einer schriftlichen Fixierung für Wert erachtet wurden, gehört das Nachdenken über das Grab. Mit Homers „Ilias“ gewinnt der Gedanke Gestalt, dass in der Begräbnisstätte eines Menschen dessen Andenken lebendig bleibt. Achill, der Held des homerischen Epos, strebt mordend nach Kriegsruhm, obwohl ihm der eigene Tod vorausgesagt war, wenn er nicht ein geruhsames, aber ruhmloses Wohlleben wählte. Achill entschied sich für Ruhm und Heldentod. Entsprechend malt er seinem Kontrahenten Hektor bei der Herausforderung zum Zweikampf aus, dass das Grabmal des Gegners zum ewigen Zeichen unvergänglichen Ruhmes werde (Il. 7, 81-91):

„Doch der Erschlagene kehrt zu den schöngebordeten Schiffen,
Daß mit Pracht ihn bestatten die hauptumlockten Achaier,
Und ihm ein Grab aufschütten am breiten Hellespontos.
Künftig sagt dann einer der spätgeborenen Menschen,
Im vielrudrigen Schiffe zum dunkelen Meer hinsteuernd:
Seht das ragende Grab des längst gestorbenen Mannes.“


Es steht außer Frage, dass die Geschehnisse der heroischen Vorzeit die Werte und Normen jener archaischen Zeit reflektieren, in der die homerischen Epen niedergeschrieben wurden. Und zu den zentralen Werten dieser Gesellschaft gehörte augenscheinlich ein ehrendes Totengedenken, das auch eine Episode aus der „Odyssee“ illustriert. Dort fordert Elpenor, der im Hause der Zauberin Circe im Suff von einem Dach zu Tode gestürzt war, noch als geisterweltlicher Schatten seinen Freund Odysseus auf, ihm ein anständiges Begräbnis zuteilwerden zu lassen (Od. XI, 77):

„Laß nicht unbeweinet und unbegraben mich liegen,
Wenn du scheidest, damit dich der Götter Rache nicht treffe!
Sondern verbrenne mich, samt meiner gewöhnlichen Rüstung,
Häufe mir dann am Gestade des grauen Meeres ein Grabmal,
Daß die Enkel noch hören von mir unglücklichem Manne!“

Ganz diesem Wunsch entsprechend wurde Elpenor begraben (Od. XII, 15):

„Als der Tote nunmehr und des Toten Rüstung verbrannt war,
Häuften wir ihm ein Grab, und errichteten drüber ein Denkmal,
Pflanzten dann hoch auf das Grab sein schöngeglättetes Ruder.“


Dem durch ein Ruder ausgezeichneten Grabmal Elpenors lassen sich der von Ulmen umgebene Grabhügel des Eetion (Il. VI, 419) die Grabmäler der Amazone Myrinne (Il. II, 811) und der Tumulus des Aesyetes zur Seite stellen (Il. II, 792), von dessen Anhöhe die Trojaner das griechische Lager beobachteten. Die Grabstätten und die Erinnerung an die dort Bestatteten galten als heilig. Von der enormen Bedeutung der Sepulchralkultur in der Antike zeugen die schon in alter Zeit zu touristischen Zielen gewordenen Grabmäler der homerischen Helden, von Philosophen, Schriftstellern und Königen wie das zum Weltwunder erklärte und schon von Plinius und Vitruv bewunderte Monument des Königs Mausolos.
Mit der Ausbreitung der jüdischen und der christlichen Religion griff eine andere Vorstellung Raum, die von der Idee getragen war, dass zwar Gott sich jedes Menschen erinnere, das Gedächtnis der Menschen aber von kurzer Dauer sei. Von Absalom beispielsweise, der wegen seiner Freveltaten ahnte, dass sein Name dem Vergessen anheimfallen sollte, heißt es im zweiten Buch Samuel (18), dass er sich kurz vor seiner Hinrichtung selbst ein Denkmal errichtete. Die Israeliten verscharrten seinen Leichnam im Wald. „Absalom aber hatte sich eine Säule aufgerichtet, da er noch lebte; die steht im Königsgrunde. Denn er sprach: Ich habe keinen Sohn, darum soll dies meines Namens Gedächtnis sein.“ Das Wissen um das allzu kurze Gedächtnis der Menschen war zugleich die Begründung für den Jammerruf im zweiten Buch der Prediger (16), dass selbst der Weisen nicht gedacht werde: „Denn man gedenkt des Weisen nicht immerdar, ebenso wenig wie des Narren, und die künftigen Tage vergessen alles.“ Diesem allzu menschlichen Vergessen entkommen zu wollen, ist eitel (1, 2): „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel“, „Vanitas vanitatum, dixit Ecclesiastes, vanitas vanitatum et omnia vanitas.

Alf Setzers Stele regt zum Nachdenken über das eigene Umgehen mit der Erinnerung und den Moden des Gedenkens an. Dass individuelles Totengedenken sich in normierten Grabplatten ausspricht, wird dabei genauso hinterfragt, wie Form und Dauer des Erinnerns an die verstorbenen Individuen. Die Frage nach den Formen, Funktionen, Möglichkeiten und Grenzen memorialer Monumente wird auch im Titel ausgesprochen, denn die „Endliche Säule“ nimmt fraglos auf jene „Unendliche Säule“ Bezug, die Constantin Brâncuși 1937/38 in der rumänischen Provinzstadt Târgu Jiu in sein Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs integrierte. Brâncuși hatte die klassische Struktur der Skulptur aufgegeben und auf alle menschlich-figurativen Motive verzichtet, die vordem der Skulptur eine natürliche Begrenzung gegeben hatten. Das fast 30 Meter hohe gusseiserne Gebilde besteht aus aufeinandergetürmten gleichen Polyedern, die, so seine Worte, „das Gewölbe des Himmels stützen“. Die „Unendliche Säule“ war Teil eines Denkmalkonzeptes, zu dem weitere auf einer West-Ost-Achse durch die Stadt angeordnete Monumente gehören wie der dicht am Fluss Jiu in einem Park stehende „Tisch des Schweigens“ und das 160 Meter entfernt aufragende „Tor des Kusses“. Die das Gesamtkunstwerk buchstäblich überragende „Unendliche Säule“, die ein Bürgermeister von Târgu Jiu in den 1950er Jahren umreißen lassen wollte, gilt heute, denn sie widerstand allen Zerstörungsversuchen leicht geneigt doch weitgehend unbeschadet, als Meilenstein der Kunst des 20. Jahrhunderts. In einer anlässlich der Eröffnung des Centre Pompidou in Metz am 11. Mai 2010 von der französischen Zeitung „Le Figaro“ durchgeführten Befragung wurde sie, unmittelbar nach Picassos „Les Demoiselles d´Avignon“, dem schwarzen Quadrat von Malewitsch, Duchamps „Roue de bicyclette“ und Matisses „Tanz“ auf dem fünften Platz der bedeutendsten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts genannt. Dabei tritt bei ihrer Wahrnehmung die memoriale Funktion hinter der Auseinandersetzung mit ihren formalen und ästhetischen Qualitäten in den Hintergrund. Denn nicht zuletzt vermittelt über ihren Titel, stellt Brâncușis „Unendliche Säule“ die Frage nach den Grenzen der Plastik, ihrer Ausdehnung und Ausstrahlung. Durch die in ihr realisierte Einheit von realer Höhe, rhythmischer Qualität und Proportionalität wird formal Unendlichkeit suggeriert, ein Effekt, dem die ursprüngliche goldgelbe Messinglasierung weiter zuarbeitete. Auch im Horizont dieser von Brâncuși angestoßenen Fragestellung, wodurch eine Plastik nicht da aufhört „wo keine Bronze mehr anzutreffen ist“, lässt sich Alf Setzers „Endliche Säule“ betrachten. Denn Brâncușis Konzept durchaus vergleichbar, besteht auch die „Endliche Säule“ aus übereinander gereihten, gleichförmigen Körpern, wobei formal auf die Differenzierung von Anfang und Ende, von Oben und Unten verzichtet ist. Potentiell könnten beide Säulen mit weiteren identischen Formteilen angestückt werden. Dem steht zwar der explizit auf Finalität zielende Titel der „Endlichen Säule“ entgegen. Doch hatte die „Endliche Säule“ auf der Landesgartenschau ihren Platz in unmittelbarer Nähe zu der von Friedhofsgärtnern und Steinmetzen inszenierten Präsentation von Mustergrabmälern und Grabzeichen. Als aktueller Ausdruck einer im steten Wandel begriffenen Geschmackskultur waren sie fraglos als Gegenentwurf zu den gesichtslosen Industriegrabsteinen gemeint, aus denen die „Endliche Säule“ geschichtet war. Alf Setzers anspielungsreiche Arbeit stellt gerade im Dialog mit den ambitionierten Grabmalsentwürfen die sich wandelnden Moden und Konventionen in Frage, die in den Grabsteinformen zum Ausdruck kommen. Sie gibt mithin auch Anlass, über die Endlichkeit künstlerischer Konzepte nachzudenken und darüber, inwieweit Künstler von dem Wunsch getragen sind, in den eigenen Werken zu überdauern, wie Brâncuși, der mit seiner „Unendlichen Säule“ zu unsterblichem Ruhm gelangte.
Keine Frage, Alf Setzers „Endliche Säule“ wirft unendlich viele Fragen auf.

 


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Foto: Horst W. Kurschat




















 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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